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History | Ergreifende Erinnerungen

Innenpolitik: „Ein Jude als Führer einer österreichischen Partei war unmöglich!“

Adolf Sturmthal (1903–1986) studierte an der Universität Wien und promovierte 1925 in Staatswissenschaften. Bereits während des Studiums kam er in Kontakt mit den Spitzen der österreichischen Arbeiterbewegung und lernte Otto Bauer über dessen Frau Helene Bauer kennen. 1926 wurde er Mitarbeiter Friedrich Adlers, damals Sekretär der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) in Zürich und verblieb in dieser Funktion bis 1937. 1938 flüchtete Sturmthal in die USA, wo er als Professor an der University of Illinois unterrichtete. Sturmthal ist einer der wenigen intimen Kenner der österreichischen Sozialdemokratischen Partei der Zwischenkriegszeit, der Auskunft über parteiinterne Zwistigkeiten, Rivalitäten und Konflikte gibt.

Otto Bauer (1881–1938) war die wichtigste politische Führungsfigur der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Zum Nachfolger Victor Adlers als Parteivorsitzender wurde Karl Seitz (1869–1950) gewählt, der nach 1923 auch Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien war. Die christlichsoziale Partei versuchte seit ihrer Gründung die Sozialdemokratie als „Judenpartei“ darzustellen, die angeblich nur „jüdischen Interessen“ diente und das „christliche Volk“ oder die „christlichen Arbeiter“ nicht vertreten konnte. Diese ununterbrochen seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlicher Intensität vorgebrachte antisemitische Propaganda konnte das Wachstum der Sozialdemokratie nicht bremsen, die unbestritten in der Ersten Republik die Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der Industriearbeiter genoss. Sie vergiftete aber das politische Klima so weit, dass die Sozialdemokratie versuchte, wichtige Schlüsselpositionen, wie diejenige des Parteivorsitzenden, nicht mit einem Juden zu besetzen. Die Aussage Sturmthals, dass ein Jude nicht Parteivorsitzender sein konnte, erscheint einerseits absurd, da der Gründer der Partei und langjährige Vorsitzende Victor Adler selber Jude war, muss aber aus dem politischen Kontext des massiven Antisemitismus im politischen Diskurs der Ersten Republik gesehen werden.

Sendung: Österreich I & Österreich II
Interviewer: Karl Menger und Christina Wesemann